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von Dr. med. Konstantin Wagner

10.09.2019

Ihrer zeit voraus

Eine ex­tre­me Früh­ge­burt bei Zwil­lin­gen. Wenn die Hoff­nung ge­ring ist, fan­gen die Wun­der an. So man­che Ge­schich­te ist doch fas­zi­nie­rend:

In ei­ner so gro­ßen Kli­nik sieht man viel. Man ist Kum­mer ge­wohnt und legt sich ein di­ckes Fell zu. Ich möch­te nicht be­haup­ten, dass man ab­stumpft oder eine Gleich­gül­tig­keit ent­wi­ckelt, aber ein ge­wis­ser Selbst­schutz ist in die­sem Be­ruf manch­mal über­le­bens­not­wen­dig. Und so ver­sucht man Schick­sal nicht all­zu nah an sich her­an­zu­las­sen. Ver­sucht pro­fes­sio­nell zu blei­ben und mög­lichst neu­tral. In die­sem Fall wa­ren je­doch all die­se Vor­sät­ze und Schutz­me­cha­nis­men ver­ges­sen. Es war still bei der Über­ga­be im Be­spre­chugns­raum, die meis­ten hat­ten ei­nen Kloß im Hals. Frau­en­ärz­te und Kin­der­ärz­te sa­ßen zu­sam­men. „Was möch­te die Pa­ti­en­tin?“ - „Al­les was mög­lich ist… sie weiß um die Pro­gno­se der Kin­der...“

Sie wur­de uns not­fall­mä­ßig ein­ge­wie­sen. Schon den Über­wei­sungs­schein zu le­sen be­scher­te ei­nem eine Gän­se­haut: „21. Schwan­ger­schafts­wo­che mit Frucht­bla­sen­pro­laps.“ Die Un­ter­su­chung be­stä­tig­te es. Die Frucht­bla­se war be­reits in der Schei­de sicht­bar. Kein schüt­zen­der Ge­bär­mut­ter­hals, kein ge­schlos­se­ner Mut­ter­mund. Ei­nes der Zwil­lin­ge war le­dig­lich von ei­nem dün­nen Häut­chen Frucht­bla­se um­ge­ben, was sie von der Au­ßen­welt und dem si­che­ren Tot der bei­den Kin­der schütz­te. 21. Schwan­ger­schafts­wo­che ist zu früh. Fast zu früh für alle Maß­nah­men, die wir me­di­zi­nisch er­grei­fen könn­ten. Erst ab der 24. Schwan­ger­schafts­wo­che kann man die Lun­gen der Kin­der un­ter­stüt­zen. Erst dann schreibt man CTGs, erst dann könn­ten wir Me­di­ka­men­te ge­ben, die den Druck aus der Ge­bär­mut­ter nimmt. Jetzt kön­nen wir nur eine Maß­nah­me er­grei­fen. Eine not­fall­mä­ßi­ge Cer­cla­ge, ein Mut­ter­mund­s­um­schlin­gung. Ein gro­ßes Ri­si­ko bei die­sem Be­fund. Zum ei­nen das dün­ne Häut­chen zu ver­let­zen, wel­ches die Kin­der noch al­lei­nig vor dem si­che­ren Tot schützt, zum an­de­ren ohne Ab­strich­be­fund zu ope­rie­ren. Soll­te man Kei­me mit „ein­nä­hen“, kön­nen die­se die Frucht­bla­se zer­set­zen und es kommt eben­falls zum vor­zei­ti­gen Bla­sen­sprung. Der Pa­ti­en­tin wur­de al­les so aus­führ­lich wie nur mög­lich be­schrie­ben und er­klärt, sie ist sich der Pro­gno­se und der kaum vor­han­de­nen Chan­ce auf Er­folg be­wusst, doch sie möch­te al­les. Möch­te kämp­fen. Und wir möch­ten mit ihr kämp­fen.

Die Ope­ra­ti­on glückt. Die Cer­cla­ge sitzt und hält. Et­was Zeit wur­de ge­won­nen. Zeit, die wir zum Re­den mit der Pa­ti­en­tin nut­zen. Die Kin­der­ärz­te re­den. Die Pro­gno­se bleibt trotz Er­folg der Ope­ra­ti­on sehr schlecht. Die Lun­gen der Zwil­lin­ge soll­te und kann man erst in zwei Wo­chen un­ter­stüt­zen. Und selbst dann ste­hen die Chan­cen nicht gut. Die Frau­en­ärz­te re­den. Eine We­hen­hem­mung kommt noch nicht in Fra­ge. Die Pa­ti­en­tin muss ab­so­lu­te Bett­ru­he ein­hal­ten. Darf ihre Not­durft an­fangs nur im Bett ver­rich­ten. Sie braucht durch­ge­hend An­ti­bio­ti­ka, da­mit sich im Be­reich der Cer­cla­ge kei­ne In­fek­ti­on aus­brei­ten kann. Ihre Ent­zün­dungs­wer­te im Blut sind be­reits er­höht. Für die Pa­ti­en­tin be­ginnt eine Zeit des War­tens, hof­fen, ban­gen und kämp­fen. Eine Wo­che. Das Ab­strich­er­geb­nis ist da. Es ist tat­säch­lich ein Keim in der Schei­de und wir müs­sen das An­ti­bio­ti­kum wech­seln. Zwei Wo­chen. Im­mer wie­der kommt es zu va­gi­na­len Blu­tun­gen und Kon­trak­tio­nen, die Ent­zün­dungs­wer­te blei­ben er­höht. Drei Wo­chen. Die Pa­ti­en­tin fühlt sich kör­per­lich zwar bes­ser, aber das vie­le Lie­gen und der Be­we­gungs­man­gel ma­chen sich lang­sam be­merk­bar. Kran­ken­haus­kol­ler. Sie möch­te nach Hau­se, möch­te ge­hen. Will die­se Kli­nik ver­las­sen. Wir ver­ste­hen, wir re­den, wir ver­su­chen die Not­wen­dig­keit deut­lich zu ma­chen. Ohne An­ti­bio­ti­kum, ohne The­ra­pie kann es zu Früh­ge­burt kom­men und al­les wäre um­sonst ge­we­sen. 23 + 2 Schwan­ger­schafts­wo­che. Im­mer noch zu früh für eine The­ra­pie der Kin­der. Doch die Pa­ti­en­tin ist eine Kämp­fe­rin. Hat ih­ren ei­ge­nen Wil­len und ver­lässt ge­gen ärzt­li­chen Rat die Kli­nik. Wie­der Gän­se­haut in der gan­zen Kli­nik.

Zwei Tage spä­ter kommt sie wie­der. Ver­stärk­te Blu­tun­gen, vor­zei­ti­ge We­hen. Die Cer­cla­ge ist be­las­tet, die Ent­zün­dungs­wer­te in die Höhe ge­schos­sen. Wir er­grei­fen alle Akut­maß­nah­men und füh­ren am nächs­ten Tag eine Lun­gen­rei­fe­be­hand­lung durch. We­hen­hem­mung, An­ti­bio­ti­kum, Flüs­sig­keit. Jetzt kämp­fen wir. Die ers­ten CTG’s wer­den 23 + 6 ge­schrie­ben. Zum ers­ten Mal hört die Pa­ti­en­tin den ver­trau­ten Ga­lopp ih­rer Kin­der. Es be­steht fast so et­was wie Er­leich­te­rung und Freu­de bei al­len Be­tei­lig­ten, doch darf man nicht ver­ges­sen, dass wir alle weit weg von der Ret­tung der bei­den Kin­der sind. Wie­der fol­gen Ge­sprä­che mit Kin­der­ärz­ten und Frau­en­ärz­ten. Ein Zwil­ling re­agiert un­ter den vor­zei­ti­gen We­hen im CTG. Die Herz­tö­ne fal­len für kur­ze Zeit ab. Re­gel­mä­ßig. Es kommt zur Ent­schei­dung. Wir müs­sen die Kin­der jetzt ho­len. Die Pa­ti­en­tin ist ge­nau in der 24 + 0 Schwan­ger­schafts­wo­che. Punkt­lan­dung. Der Kai­ser­schnitt ge­lingt ohne Kom­pli­ka­tio­nen. Die Kin­der sind win­zig und zer­brech­lich. Ei­nes schreit. Ne­ben all den Schrei­en im Kreiß­saal klingt die­ser Laut eher wie ein Quie­ken. Der an­de­re Zwil­ling lebt, scheint ge­schockt. Ge­schockt vom frü­hen Le­ben. Ein Le­ben mit all den Schwie­rig­kei­ten. Doch zu­nächst schei­nen die Pro­ble­me be­lang­los. At­men, Wär­me­haus­halt, es­sen. Für die bei­den Höchst­leis­tung.

Wir über­ge­ben die Kin­der so­fort an die an­we­sen­den Kin­der­ärz­te. Wir ha­ben ge­kämpft! Mit der Pa­ti­en­tin, für die Pa­ti­en­tin, für die Kin­der… wir sind fer­tig. Sie noch lan­ge nicht. Jetzt kämp­fen die Kin­der, jetzt kämp­fen die Kin­der­ärz­te. Um das Über­le­ben der bei­den Mäd­chen.

NACH­TRAG 6 MO­NA­TE SPÄ­TER

Es geht ih­nen gut. Ih­nen al­len! Sie ma­chen sich präch­tig. "mnw" steht im Ver­lauf der Kin­der­ärz­te. Eine gute Ab­kür­zung. "Müs­sen noch wach­sen". Mehr nicht. Kei­ne Me­di­ka­men­te, kei­ne Ope­ra­tio­nen, ein­fach nur wach­sen. Auch das schaf­fen sie. Die Kin­der­ärz­te ha­ben ge­kämpft und es hat sich ge­lohnt. Die Frau­en­ärz­te sind fer­tig, die Kin­der­ärz­te sind fer­tig. Eine Fa­mi­lie kämpft wei­ter... doch der Kampf ist längst zu ei­nem Ge­schenk ge­wor­den. Viel Glück und al­les Lie­be Fa­mi­lie B.

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Dr. med. Konstantin Wagner

Hallo, ich heiße Konstantin und bin Facharzt für Gynäkologie und Geburtsmedizin. Nach meinem Medizinstudium in München habe ich von 2015 bis 2020 in einer maximalversorgenden Klinik in Kassel gearbeitet. Dort hatte ich es mit unzähligen spannenden Fällen zu tun, betreute hunderte Geburten und sammelte einen großen medizinischen Erfahrungsschatz. Seit 2020 widme ich mich der niedergelassenen Tätigkeit in meiner eigenen gynäkologischen Praxis in Kassel.

Im Kon­takt mit mei­nen Pa­ti­en­tin­nen wur­de mir be­wusst, wie schwer es me­di­zi­ni­schen Lai­en oft fällt, ech­te Fach­in­for­ma­tio­nen von My­then und In­ter­net-Pa­nik­ma­che zu un­ter­schei­den. Ich habe es mir da­her zur Auf­ga­be ge­macht, fun­dier­tes Wis­sen zu mei­nen Fach­ge­bie­ten zur Ver­fü­gung zu stel­len – in ver­schie­dens­ten For­ma­ten so­wie auf nach­voll­zieh­ba­re und kurz­wei­li­ge Wei­se.

​Ich lebe mit mei­ner Frau und mei­nen zwei Töch­tern in Nord­hes­sen.